
6. Sonntag der Osterzeit // zur ersten Lesung
Von Judäa kamen einige herab und lehrten die Geschwister: »Wenn sich die Männer unter euch nicht nach dem Ritus des Mose beschneiden lassen, könnt ihr nicht gerettet werden.« Da stritten Paulus und Barnabas außerordentlich heftig mit ihnen. Daraufhin beschloss man, dass betreffs dieser Streitfrage Paulus und Barnabas sowie noch einige weitere von ihnen nach Jerusalem zu den Aposteln und Ältesten hinaufgehen sollten.
[...]
Da beschlossen die Apostel und die Ältesten mit der ganzen Gemeinde, Männer aus ihrer Mitte auszuwählen und mit Paulus und Barnabas nach Antiochia zu schicken, nämlich Judas, Barsabbas genannt, und Silas, die unter den Geschwistern führende Stellungen einnahmen. Durch sie ließen sie folgendes Schreiben überbringen: »Die Apostel und die Ältesten grüßen in geschwisterlicher Verbundenheit die Schwestern und Brüder aus der Völkerwelt in Antiochia, Syrien und Zilizien. Wir haben gehört, einige von uns wären zu euch gekommen und hätten euch – ohne irgendeinen Auftrag unsererseits – mit ihrem Reden verwirrt und durcheinander gebracht. Deshalb sind wir übereingekommen und haben beschlossen, Männer auszuwählen und zu euch zu schicken zusammen mit den von uns geliebten Barnabas und Paulus, Menschen, die ihr Leben eingesetzt haben für den Namen Jesu, des Gesalbten, der Macht über uns hat. Wir schicken also Judas und Silas, die mündlich eben dasselbe berichten werden. Die heilige Geistkraft und wir haben nämlich beschlossen, dass euch keine weitere Last auferlegt werde außer diesen notwendigen Dingen: Haltet euch fern vom Fleisch der den Götzen geopferten Tiere, vom Blutgenuss, vom Fleisch erstickter Tiere und von torawidrigen geschlechtlichen Beziehungen! Wenn ihr euch davor bewahrt, werdet ihr euch richtig verhalten. Lebt wohl!«
(Aus der Geschichte der Apostelinnen und Apostel, Kapitel 15, Verse 1-2 und 22-29)
Es hat also ordentlich gescheppert in den jungen jesusgläubigen Gemeinden in Antiochien. Wie verhält es sich mit deren Zugehörigkeit zum Judentum? Das ist die Grundfrage. Hier treffen religiöse Sozialisation, theologische Lieblingsideen und Sendungsbewusstsein zusammen. Die einen fordern, die Jesusgläubigen müssten sich auch dem Judentum anschließen - mit der Beschneidung der Männer und dem Halten der Tora -, die anderen finden das überflüssig und sehen die Gnade Gottes über diese Zugehörigkeitsgrenzen hinweg am Werk. Dahinter steht die rasante Ausbreitung des Glaubens an Jesus von Nazareth im Mittelmeerraum und der Anfang der Marginalisierung der Jerusalemer Urgemeinde, die bald sowohl örtlich als auch von der Wichtigkeit ihrer Protagonisten her ein Randphänomen des beginnenden Christentums wird. Und zu uns kommt das alles durch die Perspektive des Schriftstellers, dessen Darstellung von seiner eigenen Glaubensüberzeugung und seinem Geschichtsbild geprägt wird. In der Sonntagslesung wird nur der Ausgangspunkt des Streits zitiert sowie das Ergebnis. Dazwischen findet sich in der Apostelgeschichte eine Schilderung des sogenannten "Apostelkonzils" - dieser landläufige Name suggeriert, es hätten nur Männer teilgenommen, aber dass die Frauen wie üblich in den männlichen Sprachformen verschwinden, heißt nicht, dass sie nicht mitdiskutiert hätten -, wobei die Debatte auf wenige Beiträge zusammengekürzt wird und nur die Argumente derer überliefert werden, deren Position schließlich gewinnt: Das ist die Seite derer, die keinen Übertritt der nichtjüdischen Jesusgläubigen zum Judentum fordern.
Hier ist zu beobachten, was später prägend für den christlichen Umgang Entscheidungen wird: In der Regel wird die unterlegene Position nicht mitüberliefert, oder nur in Form von Verfluchungen. Aus diesem Umgang mit historischen Entwicklungen erwächst eine Denkfigur, die das historisch Gewordene gerne gleichsetzt mit dem Gottgewollten. Gleichzeitig deutet sich hier schon eine göttliche Legitimation menschlicher Entscheidungen an, die durch die Übersetzung noch verstärkt wird: Während die Lutherübersetzung und andere "dokeo" mit "es gefällt, es scheint gut" übertragen, wählen die Einheitsübersetzung wie auch die Bibel in gerechter Sprache, die Zürcher Bibel und andere die Wortbedeutung "entscheiden, beschließen". Es macht aber einen Unterschied, ob man liest "Es schien der Heiligen Geistkraft und uns gut..." oder "die Heilige Geistkraft und wir haben beschlossen..." Die Beteiligten an der Debatte kommen zu einem Ergebnis, das am besten zu ihren religiösen Grundüberzeugungen passt, die man als "entgrenzten Glauben" beschrieben kann: die Zugehörigkeit zu einer universalen Gottheit, eine von Gewalt und Tod nicht mehr begrenzte Lebendigkeitserfahrung und in der Folge eine soziale Gemeinschaft, die in ihrer Anfangszeit Geschlechts- und Klassenunterschiede überwinden will. Dieser Zusammenklang wird in dem Ergebnisbrief, wie Lukas ihn zitiert, so ausgedrückt, dass diese Entscheidung eine göttliche Bestätigung erfährt.
So eine Übereinstimmung der menschlichen, in einer Debatte getroffenen Entscheidung mit dem Willen Gottes ist immer heikel (vgl. den offenen Brief an Paulus zu dessen 2. Brief an die Gemeinde in Korinth), und sie wird umso heikler, je mehr das Entschiedene und Gewordene auch als normativ gilt und je mehr Mittel zur Verfügung stehen, diese Norm auch durchzusetzen: wenn also Gehorsam eingefordert und im Zweifel erzwungen wird. In der römisch-katholischen Kirche lässt sich die Deutung der Ergebnisse sozialer Aushandlungsprozesse als geistgewirkt und also gottgewollt bis heute beobachten, zuletzt beim gerade beendeten Konklave. Damit verbunden ist eine enorm ausgeprägte Vermeidungshaltung gegenüber Reformen, außer wenn es der höchsten Autorität angebracht scheint. Dann kann auch ein Papst wie Pius XII. im Jahr 1947 geradezu nonchalant erklären, dass "alle [wissen], dass die Kirche, was sie festgelegt hat, auch verändern und abschaffen kann"(1). Der Anspruch, in Übereinstimmung mit der Heiligen Geistkraft zu entscheiden, braucht aber Kriterien. Ohne solche Kriterien sind dem geistlichen Machtmissbrauch Tür und Tor weit geöffnet. Für die Beteiligten an der apostolischen Debatte in Jerusalem war das Kriterium offenbar, dass die Entscheidung als kontinuerliche Weiterführung der prophetischen Tradition gelten konnte. So konnten diejenigen Jesusgläubigen, die für eine Zugehörigkeit zu ihrer Gemeinschaft nicht an die Übernahme der Tora gekoppelt sein sollte, diese Entscheidung aus der prophetischen Hoffnung auf die Völkerwallfahrt nach Jerusalem heraus begründen. Das Kriterium, dass in Übereinstimmung mit der Heiligen Geistkraft entschieden wurde, wenn die Entscheidung schriftgemäß ist, bleibt aber prekär, weil die Bibel ein vieldeutiges und nicht selten abgründiges Buch ist. In der Folge wird im westlichen Christentum - zumindest bis zur Reformation - das Kriterium der Schriftgemäßheit mehr und mehr überschrieben: Nun gilt nicht mehr die Schrift an sich als Grundlage, sondern deren Auslegung durch bischöfliche bzw. päpstliche Autorität.
Von alldem sind diejenigen noch sehr, sehr weit entfernt, deren Brief - zumindest die Fassung davon, die Lukas kannte - hier wiedergegeben wird. Die Praxis der Schriftauslegung im Dialog, wie auch Jesus von Nazareth sie offenbar schätzte, wird hier jedoch schon anfanghaft abgelöst durch eine auf zugeschriebener Autorität beruhende Entscheidung - immerhin ist es Jesu Bruder Jakobus, der das Ergebnis formuliert, das dann in Briefform festgehalten wird. Der Anspruch auf göttliche Autorität, wenn es um die Selbstorganisation in einer kleinen gesellschaftlichen Gruppe mit einer Minderheiten-Religion geht, ist das eine. Es ist etwas anderes, wenn dieser Anspruch von einer Institution mit ganz realer gesellschaftlicher Macht erhoben wird, die ihre eigene Ausgrenzungspraxis als ebenso gottgewollt deutet. Bei der apostolischen Debatte in Jerusalem ging es darum, möglichst inklusiv zu sein. Das scheint bei heutigen kirchlichen Debatten, fast 2000 Jahre später, noch eine Utopie zu sein.
(1) Sacramentum ordinis, zitiert nach Knop, Julia, Nicht verhandelbar ist Geschlehtergerechtigkeit, https://www.katholisch.de/artikel/49445-knop-zu-parolin-nicht-verhandelbar-ist-geschlechtergerechtigkeit, aufgerufen am 15.05.2025.