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26. Sonntag im Jahreskreis C // zur zweiten Lesung

Du aber, ein Mann Gottes, hüte dich davor; strebe vielmehr nach rechtmäßigem Handeln, pflichtbewusster Lebensführung, verlässlicher Treue, liebevoller Zuwendung, ruhiger Geduld und freundlicher Gelassenheit. Kämpfe den guten Kampf des Glaubens, ergreife das ewige Leben, zu dem du berufen wurdest und zu dem du das gute Bekenntnis abgelegt hast vor vielen Zeuginnen und Zeugen.
Im Angesicht Gottes, der Kraft, die alles Leben hervorbringt, und des Christos Jesus, der vor Pontius Pilatus öffentlich für das wahre Bekenntnis eingetreten ist, weise ich dich an, deinen Auftrag zu erfüllen! Bewahre dein Amt makellos und tadellos, bis Jesus, der Christos, unter dessen Weisung und Schutz wir stehen, wiederkommen wird. Dies wird Gott zur bestimmten Zeit sichtbar ins Werk setzen.
Gott, hoch gelobte und alleinige Souveränität, König aller, die königliche Macht haben, Herr aller Herrschenden, allein unsterblich, zu Hause in unzugänglichem Licht, von keinem Mensch je gesehen und für niemanden jemals sichtbar, dieser königlichen Majestät sei Ehre und ewige Herrschaft. Amen.

(1. Brief im Namen des Apostels Paulus an Timotheus, Kapitel 6, Verse 11-16)

Der erste Brief an Timotheus gehört zu den sogenannten Pastoralbriefen: Entstanden mindestens eine Generation nach dem Wirken des Paulus und fiktiv an einige seiner Mitarbeiter adressiert, modifizieren und adaptieren sie seine Verkündigung für die neue Zeit. Denn die apokalyptische Naherwartung ebbt allmählich ab, und der Schwerpunkt des entstehenden Christentums verlagert sich so, dass diejenigen Jesusgläubigen, die in der frühjüdischen Tradition verwurzelt sind, gegenüber denen, die einen heidnischen Hintergrund haben, deutlich in die MInderheit geraten. Im Zuge dessen ändern sich auch die Gemeinde-Konzeptionen. Die entstehende Kirche beginnt sich als Hauskirche zu verstehen - so spricht auch der erste Timotheusbrief von der Kirche nicht mehr als Leib Christi, sondern als Haus Gottes. Damit ist eine Anpassung an das gesellschaftliche Herrschaftsmodell des römischen Reiches verbunden: Leiter ist ein pater familias, also ein freier, vermögender Mann, der einem Haus vorsteht, d.h. einem kleinen Gemeinwesen, bestehend aus seiner ihm zu- und untergeordneter Frau und seinen Kindern sowie aus versklavten Frauen, Männern und Kindern. Damit sind Ausschlüsse verbunden, denn nun sind nicht mehr alle gleich, sondern arme Menschen, versklavte Menschen und Frauen allgemein werden aus der Gemeindeleitung hinausgedrängt, sie sollen hören, aber nicht mehr lehren und verkündigen, mitfeiern, aber nicht mehr gleichberechtigt mitsprechen. Das ist nicht nur ein allmähliches Geschehen, sondern auch aktives Zurückdrängen, und daran haben die Pastoralbriefe Anteil, weil sie im Sinne des pater famlias argumentieren und dafür auch paulinische Theologie neu interpretieren. 

Indem der fiktive Autor Paulus den fiktiven Empfänger Timotheus als "Mann Gottes" bezeichnet, bekommt der Gemeindeleiter eine Stellung und Autorität, die in der ersten Generation der Jesusgläubigen etwa in Korinth noch undenkbar war: Er bekommt gottgegebene Autorität wie Mose oder Elija, und zwar wegen seines Leitungsamtes, nicht wegen seiner prophetischen Begabung. Dieser Leiter soll dafür sorgen, dass die Frömmigkeit in der Gemeinde gelebt wird - oben mit "verlässlicher Treue" übersetzt. Der Inhalt dieser Frömmigkeit wird vorausgesetzt, bei dem Begriff geht es weniger um Glaubensinhalte denn um die Lebensführung und die richtige Haltung gegenüber der umgebenden Gesellschaft: Man soll ein gutes Mitglied dieser Gesellschaft sein, für die Obrigkeit beten, nicht aufrührerisch agieren, ehrbar und würdig leben. Das ist ein Programm, das in hohem Maße die patriarchalen Normen und Ideale der römisch-hellenistischen Kultur integriert hat und das sich deutlich von sozialrevolutionären Gleichheitsidealen und Emanzipationsbestrebungen unterprivilegierter Gruppen unterscheidet. In Konflikte gerät eine solche Hauskirche nicht mit der Obrigkeit, dem Staat und dessen Vertretern, sondern nach innen. Eine jesusgläubige Gemeinschaft, in der Frauen wichtige (Leitungs-)Funktionen innehaben, in der alle Stimmen gleichermaßen gehört werden, die des versklavten Mädchens genauso wie die des freien Mannes, kann keine staatstragene Rolle spielen, weil der Staat gerade für die patriarchale Ordnung steht. Solche Stimmen werden in den Pastoralbriefen abgelehnt und bis zur Verleumdung bekämpft, insbesondere die Unterordnung der Frauen wird massiv eingefordert - etwa im ganzen Abschnitt 1 Tim 2,9–15, in demes unter anderem heißt: „Eine Frau soll sich still undin voller Unterordnung belehren lassen.“

Jesus hatte bekanntermaßen keine Institution geschaffen und keine Ämter eingerichtet. Er hatte auch nicht bestehende Institutionen bekämpft. Er hatte vielmehr für Unterbrechungen gesorgt: im Ablauf der Dinge, in Beziehungen, in Biographien und Gemeinschaften. Junge Fischer ließen ihre Netze liegen, Frauen verließen ihr Haus und damit auch ihre Ehemänner, am Lehrgespräch  mit ihm beteiligten sich Frauen wie Männer. Die Unterbrechung sorgte dafür, dass Menschen sich neu orientieren und ihrem Leben eine neue Richtung geben konnten. Untereinander waren alle auf der gleichen Ebene, solange er bei ihnen und alle auf ihn bezogen waren. Er hatte etwas an sich, das Statuskämpfe überflüssig machte, und machte ihnen vor, aus dem Augenblick zu leben, denn das war der Moment, in dem Gottes Gerechtigkeit sich zu verwirklichen begann.

Ohne ihn brauchten die Seinen eine Struktur, umso mehr, je länger sein Sterben zurücklag. Aus den minimalen, egalitären .Strukturen der Anfangszeit wurde die Hauskirche nach dem Vorbild eines römischen Haushalts, und aus ihm wurde der Patriarch seiner Kirche. Geschichte aber ist nie nur schwarz-weiß. Für alle, die keine Hausvorsteher im Sinne des patriarchalen pater familias waren, bedeutete die Repatriarchalisierung der frühen Kirche eine Verlustgeschichte. Ohne diese Anpassung an den Zeitgeist aber wäre das Christentum wohl kaum bis zu uns gekommen. 

Für heute gilt es, zu schauen, was der Botschaft von Jesus-dem-Lebendigen dient. Die Bibel ist vielstimmig, auch das Zweite Testament. Jede Generation, die sie liest, versucht auf ihre Weise, die befreiende Botschaft von Jesus-dem-Lebendigen Gestalt annehmen zu lassen. Nicht alles taugt dafür gleichermaßen - der patriarchale Zeitgeist der Pastoralbriefe zum Beispiel ist kein Ideal für demokratieliebende Menschen. Die Staatstreue der Pastoralbriefe kann uns aber durchaus darin bestärken, unser Gemeinweisen zu schützen, indem wir die Demokratie aktiv verteidigen. Sie hat es nötig, und ihr ist nicht gedient, wenn leitende katholische Kirchenmänner sie indirekt abwerten und ihrer Verachtung Vorschub leisten. Das aber geschieht jedesmal, wenn katholische Bischöfe Reformbestrebungen entgegentreten mit dem Hinweis, dass die Kirche ja keine Demokratie sein noch sein könne. Sie kann sehr wohl, wie alle synodalen Kirchen zeigen - und wie Papst Piu XII. 1947 in "Sacramentum ordinis" feststellte, kann auch die katholische Kirche selbstverständlich ändern, was sie einmal entschieden hat - warum nicht auch ihre Entscheidung für die interne Organisation als absolute Monarchie? (Ja, es ist ein bisschen komplexer, da das weniger eine Entscheidung als vielmehr eine lange Entwicklung ist, in der die Bischöfe, um mit dem Tübinger Kirchenhistoriker Andreas Holzem zu sprechen, "von Vasallen des Königs zu Oberministranten des Papstes" geworden sind - aber das gilt für die Ausgestaltung des Weihesakraments, auf die Papst Pius XII. sich bezog, auch.) Im Gegenteil: Für heute, in den bedrohten westlichen Demokratien wäre gerade ein nichtpatriarchales, heterogenes Christentum eine Stütze und eine Verteidigung einer Lebensform, in der Menschen in Frieden leben können. Denn Kräfte, die ein autoritäres Gesellschaftsbild mit rechtspopulistischem Gedankengut und traditionalistischem Christentum verbinden, gewinnen weltweit deutlich an Einfluss. Die Gefahr, die von ihnen ausgeht, ist nicht zu unterschätzen, gerade auch weil sie finanzkräftig und gut vernetzt sind. Dem Wachstum von Gottes Gerechtigkeit auf dieser Welt und in unserer Geschichte dienen sie nicht.