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Allerseelen
// Achtung, dieser Artikel thematisiert Fehlgeburt, stille Geburt und Tod im Säuglingsalter //
Am Fest Allerseelen gedenkt die katholische Kirche aller Verstorbenen, ausdrücklich auch derer, von denen sie nicht als sicher annimmt, dass sie schon im Glanz Gottes geborgen, also Heilige sind. Diese anderen sind die, die prinzipiell zum Leben gestorben sind, aber sich noch auf dem Weg in den Glanz Gottes befinden, weil sie noch geläutert werden. Das traditionelle Wording dafür ist "Abbüßen der zeitlichen Sündenstrafen": Während die ewige Sündenstrafe bedeutet, dass jemand in der absoluten Gottferne verloren ist - traditionell "Hölle" -, ist die zeitliche Sündenstrafe das, was Katholik*innen lange als "Fegefeuer" geglaubt haben: Die Konfrontation mit den Folgen der eigenen Sünden, die vergeben sind, aber deren Folgen eben dadurch nicht aus der Welt sind. Diese Schuld abzutragen, geht zu Lebzeiten: Das sind dann die Werke der Buße. Und wenn man damit im Leben nicht fertig geworden ist, geht es auch nach dem Tod, im Leiden an dem, was man angerichtet hat. Die Lebenden können dieses Leiden verkürzen, indem sie für die Verstorbenen beten und stellvertretende Bußwerke tun.
Eine weitere Möglichkeit ist, für sich zu Lebzeiten oder für andere nach deren Tod einen Ablass zu erwerben, also einen Abtrag der zeitlichen Sündenstrafen. Das ist sogar juristisch, nämlich im Kodex des kanonischen Rechts festgehalten: Den Erlass der zeitlichen Sündenstrafen könne man durch Vermittlung der Kirche erreichen, weil sie Erbin der Sühneleistungen sei, die Jesus Christus und die Heiligen für die Sünden der Menschen und deren Folgen erbracht haben (can. 992 CIC 1983).
Heute ist der Ablass in der Regel über den Empfang des Bußsakraments und der Eucharistie plus ein besonderes religiöses Werk erwerbbar: eine Wallfahrt, ein Kirchen- oder Friedhofsbesuch, ein besonderes Gebet. Früher ging es ganz praktisch auch durch Bezahlung, denn die Kirche verkaufte Ablässe aus der unerschöpflichen Schatztruhe der oben erwähnten Sühneleistungen, die sie verwaltet - die Kritik an dieser Praxis führte zur Reformation. Der Handel mit Ablassbriefen wurde 1567 von Papst Pius V. verboten, im Nachhinein wurden alle durch Kauf erworbenen Ablässe ungültig, allerdings ohne dass den Gläubigen ihr Geld zurückerstattet worden wäre (wie auch). Almosengeben als religiöses Werk im Sinne des Ablasses ist aber weiterhin eine Möglichkeit. Die lutherische Theologie verwirft die gesamte Vorstellung von einem zu verwaltenden Gnadenschatz und setzt allein auf die Gnade Gottes. Ich folge - nicht nur an dieser Stelle - dem evangelischen Bekenntnis.
Für wen keine Ablässe erworben werden konnten, sind die ungetauft verstorbenen Kinder. Heute betont die katholische Kirche, dass die Überzeugung, diese Kinder landeten für ewig im Schattenreich "Limbus puerorum", "Vorhölle der Kinder", niemals offizielle Lehre der Kirche gewesen sei, sondern den Rang einer theologischen Hypothese gehabt habe. Eine lange Lehrtradition hatte sie dennoch, und auch die Praxis spricht eine deutlich andere Sprache. Denn in der Praxis gab es über Jahrhunderte die sogenannte "Taufspritze", mit der eine Hebamme den Kindskopf während einer schweren Geburt schon im Geburtskanal mit Weihwasser (und Bakterien) in Kontakt bringen konnte - sie waren vom 15. Jahrhundert bis weit ins 19. Jahrhundert, vereinzelt sogar noch im 20. Jahrhundert gebräuchlich. Und es gab das Tabu, dass ungetauft verstorbene Kinder nicht auf einem geweihten Friedhof bestattet werden durften, und das galt selbst für Frauen, die während der Schwangerschaft oder unter der Geburt verstorben waren, weil das Kind in ihnen eben nicht im Stand der Gnade war. Wie bedrängend und real der Glaube war, ein Kind nicht nur verloren, sondern auch einer hoffnungslosen Schattenexistenz preisgegeben zu haben, zeigt sich in der Kreativität, die Menschen entwickelten, um es davor doch noch zu retten: tote Kinder, die auf Marienaltäre gelegt wurden, damit sie für kurze Zeit wieder lebendig werden und schnell getauft werden könnten, tote Kinder, die so bestattet wurden, dass das Traufwasser der Kirche auf ihre Gräber floss und sie so taufen könnte... Die Vorstellung des "Limbus" jedenfalls kombinierte Vorstellungen von Erbsünde, Taufe und Erlösung: Wenn die Taufe notwendig ist, um von der Erbsünde befreit zu werden, dann ist ohne Taufe keine Seligkeit möglich, auch wenn ein Baby natürlich selber keinerlei Sünde begangen hat. Und ohne Taufe, im nicht von der Erbsünde befreiten Zustand, keine Bestattung auf katholischen Friedhöfen. Erst mit und nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) hat sich diese Praxis verändert, und erst seit 1970 gibt es im Messbuch eine Begräbnismesse für ungetauft verstorbene Kinder.
Auch hier folgt nun die Lehre der Praxis: 2007 hat Papst Benedikt XVI. die Rede vom Limbus offiziell downgegradet zu einer "nicht vom kirchlichen Lehramt unterstützen älteren theologischen Meinung". Aber niemand hat je all die vielen Eltern um Verzeihung gebeten, denen die Vorstellung vom Limbus das Leben zur Hölle gemacht hat. Auch wenn das Dokument fein unterscheidet zwischen der Lehre der Kirche und dem Glauben der Kirche, zu dem der Limbus nicht gehört habe: Die Vorstellung des Limbus wie auch die verweigerte Bestattung haben Leid potenziert. Dass die Mütter, die Eltern, die Familien der still geborenen oder sehr früh verstorbenen Kinder so gar nicht im Blick waren, auch nicht in der Feststellung von 2007, markiert ein Defizit, das schwer erträglich ist. Auch die aktuelle Klarstellung spricht zurückhaltend nur von "Gründen zur Hoffnung" für die ungetauft verstorbenen Kinder. Mag die katholische Kirche sich auch als Mutter bezeichnen: Den Schmerz und die Trauer um ein Kind können ihre Lenker wohl so wenig nachvollziehen wie den Glaubenstrotz verwaister Eltern, für die sich Gottes Gottsein daran zu bewähren hat, wie Gott mit ihrem Kind umgeht.
Über die Änderung zur Haltung gegenüber den ungetauft verstorbenen Kindern - erst recht über ein Lernen von der trauernden Liebe der Eltern, die für ihr Kind nichts weniger als den Himmel glauben - könnte es auch eine Neubewertung geben hinsichtlich der Inhalte des Allerseelenfestes bzw. in Bezug auf die doch sehr bildlichen Vorstellungen von dem, was nach dem Sterben mit dem Leben geschieht. Biblisch ist die Hoffnung schon lange besungen: "Es werden Gott anbeten, die zum Staub fuhren und ihr Leben nicht konnten erhalten." (Ps 22,30) Damit dürften wohl die fehlgeborenen Kinder gemeint sein, aber was für sie gilt, gilt für alle: Wir werden im Glanz Gottes bewahrt sein.
Allerheiligenlitanei: Alle Heiligen Gottes