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30. Sonntag im Jahreskreis C // zur 1. Lesung
Biete Gott keine Bestechungsgeschenke an, denn solche Gaben nimmt sie nicht an. Schlage dir durch Unrecht erworbene Opfer aus dem Kopf, denn die Ewige ist Richterin und bei ihr spielt das Ansehen der Person keine Rolle. Sie ist den Allerärmsten gegenüber nicht voreingenommen und hört auf die Bitte von Menschen, denen Unrecht geschieht. Niemals überhört sie den Hilferuf der Waisen und Witwen, wenn sie ihre Klagen ausschütten. Fließen die Tränen der Witwe nicht über ihre Wangen, und klagt ihr Hilfeschrei nicht die an, die ihre Tränen verursacht haben? Menschen, die Gott dienen, werden mit Freude angenommen, und ihre Bitte dringt bis zu den Wolken. Das Gebet erniedrigter und entwürdigter Menschen dringt durch die Wolken, und es lässt nicht nach, bis es sein Ziel erreicht hat; es gibt nicht auf, bis die Höchste es wahrnimmt, sich für die Gerechten vor Gericht einsetzt und ihnen Recht verschafft. Und die Ewige wird nicht zögern, und sie wird keine Nachsicht mehr üben gegen die, die Unrecht tun, bis sie die Hüftknochen der Mitleidlosen zerschmettert hat und an den Völkern, die andere versklaven, Vergeltung geübt hat; bis sie die Menge der Gewalttätigen beseitigt und das Zepter der Ungerechten zerbrochen hat; bis sie den Menschen ihre Taten vergolten hat und ihre Werke entsprechend ihren Beweggründen; bis sie über ihr Volk Recht gesprochen hat und es mit ihrem Erbarmen erfreut hat. Willkommen ist Gottes Erbarmen in Zeiten der Bedrängnis, wie Regenwolken in Zeiten der Trockenheit.
(Buch Jesus Sirach, Kapitel 35, Verse 14-26)
Die Sonntagslesung aus dem Buch Jesus Sirach wählt aus der entsprechenden Passage nur Teile aus, denn diese sollen ausreichen, um einen Bezug zum Evangelium vom selbstgewissen Gebet des Religionsgelehrten und dem zerknirschten Gebet des Zöllners (Lk 8,9-14) herzustellen. Im zitierten Text sind die Teile, die in der Leseordnung weggelassen werden, rot eingefärbt - und es handelt sich hier wie immer auf diesem Blog um die Bibel in gerechter Sprache. Die Einheitsübersetzung spricht nicht weiblich von Gott.
Es fehlen Anfang und Schluss, denn auch wenn die biblischen Schriften ihre Kapitel- und Versnummerierung erst in der Neuzeit erhalten haben, sind Sinnabschnitte doch gut zu erkennen. Indem die Lesung erst nach einem gekappten Bedingungssatz einsetzt, eliminiert sie die Opferkritik des Textes: Biete Gott nichts zur Bestechung an, Gott wird es nicht annehmen, denn Gott ist Richter*in: Das ist ein wichtiger Zusammenhang, weil die Gefahr, Ungerechtigkeit religiös zu verbrämen, überall besteht, wo Religion soziale Gestalt annimmt. Auch das Ende der Lesung wird nicht dort angesetzt, wo der Sinnabschnitt endet, sondern deutlich früher: Hier wurden Gewaltbilder herausgekürzt, die Gottes Gerechtigkeit drastisch ins Bild setzen: Die Hüftknochen der Mitleidlosen zerschmettern, an Völkern Vergeltung üben, die andere versklaven, das Zepter der Ungerechten zerbrechen. Bei solchen Stellen ist es wichtig, zu verstehen, dass das Gewaltimaginationen von Menschen sind, die keine Möglichkeit haben, solche Gewalt selber auszuüben, sondern im Gegenteil selber von Gewalt bedroht oder betroffen sind. Diese stellen sich eine Welt vor, in der die Mitleidlosen selber hilflos sind - mit einem gebrochenen Becken ist ein Mensch in allem auf andere angewiesen - und in der keine Gruppe von Menschen andere mehr unterdrücken kann. Das ist natürlich ein Text, der geschrieben ist, lange bevor es Gerichte gab, wo Kriegsverbrechen angeklagt werden konnten, vor Völkerrecht, Menschenrechten (deren Erklärung der Vatikan immer noch nicht zugestimmt hat) und UNO. Heute stünden also andere Bilder zur Verfügung dafür, wie Gott für Gerechtigkeit sorgen möge. Aber die Streichung scheint mir auch damit zu tun zu haben, dass die Ohnmachtsposition des biblischen Textes übersehen wurde und darum die Gewaltvorstellungen umso skandalöser erschien: Wenn diese Gewaltvorstellung empörend erscheint, dann zeigt sich in der Empörung ein privilegierter Standpunkt, nämlich der Standpunkt derjenigen, die selber nicht in so einer Ohnmachtsposition sind und deshalb den Wunsch nach Vergeltung nicht nachvollziehen können. Treibend kann natürlich auch das christliche Motiv der Gewaltlosigkeit gewesen sein. An dieser Stelle ist aber wichtig, dass Gewaltlosigkeit nicht heißt, dass Gewalttätern keine Gerechtigkeit wiederfahren soll. Ein Ethos der Gewaltlosigkeit darf nicht dazu führen, dass Gewaltopfer zur Vergebung verpflichtet werden, ohne dass die Täter verurteilt und die Ermöglichungsstrukturen beseitigt worden wären.
Noch einmal eine andere Art von Streichung ist mitten im Text zu finden: Während die Kürzung am Anfang das Motiv des Missbrauchs der Religion für eigene Zwecke betraf und die Kürzung am Ende die Vorstellung, Gerechtigkeit mit Gewalt durchzusetzen, wird in der Mitte an der Klage der Opfer gekürzt. Gott nämlich ergreift in einem patriarchalen Rechtssystem Partei für die Witwen und Waisen, also für Menschen, die keinen Mann als gesetzlichen Vertreter und keine wirtschaftliche Absicherung haben - Witwen zum Beispiel beerben ihre Ehemänner nicht, und sie können sich auch nicht selber vor Gericht vertreten. Wer recht- und mittellos ist, ist völlig schutzlos. Für diese Schutzlosen ergreift Gott Partei. Dass die Dramatik ihrer Situation herausgestrichen wurde, macht die Bedrängnis der Witwe zu etwas Abstraktem. Sowohl die Tränen der Witwe als auch ihr Hilfeschrei würden ihre Not greifbar machen, aber an dieser Greifbarkeit ist die Leseordnung nicht interessiert. Fragen nach Gerechtigkeit und Macht werden in der Bibel häufig an Frauen verhandelt; so sind etwa alle kritischen Texte über König David diejenigen, in denen er sich Frauen gegenüber ausbeuterisch und missachtend verhält. Auch heute noch kann man die Gerechtigkeit einer Gesellschaftsordnung daran ablesen, wie es in dieser Gesellschaft um die Gleichberechtigung der Geschlechter bestellt ist und wie sie mit den Schwächsten umgeht - mit Geflüchteten, mit Fremden, mit Menschen mit Behinderung... Mit der Benennung derjenigen, die die Tränen der Witwe verursachen, ist der Text sehr deutlich in seiner Kritik an allen, die andere um ihr Recht bringen, entweder direkt oder indirekt, indem ihnen diese Schwächsten einfach egal sind, die solche Gerechtigkeitsfragen zu Befindlichkeiten erklären und sie für eine lästige Modeerscheinung halten.
Das Buch Jesus Sirach ist eines der jüngsten Bücher des Ersten Testaments, es wurde verfasst, als der Zeitgeist der griechischen Antike sich im Mittelmeerraum ausbreitete und mit ihm ein negatives Frauenbild. So ist dieses Buch das einzige im Ersten Testament, das die Geschichte vom Baum im Garden Eden als "Sündenfall" liest und die Frau für Sünde und Tod in der Welt verantwortlich macht: "Wegen einer Frau kam die Sünde in die Welt, ihretwegen müssen wir alle sterben." (Sir 25,24) An keiner Stelle im ersttestamentlichen Kanon wird das sonst so gelesen, in prophetischen Texten etwa ist das Bild für Sünde und Glaubensabfall die eheliche Untreue. Im Christentum hingegen, dessen Zweites Testament voll unter dem Einfluss dieses Zeitgeistes entstanden, hat sich dieses negative Frauenbild massiv durchgesetzt. Wenn nun schon ein Buch wie Jesus Sirach die verwitwete Frau als diejenige betrachtet, an der messbar ist, ob ihr Umfeld auf Gerechtigkeit im Namen Gottes aus ist, dann ist das wichtig. Ebenso wichtig ist die Verbindung dieses Motivs der Gerechtigkeit gegenüber den Witwen, also den rechtlosen Frauen, mit der Opferkritik am Beginn des Abschnitts. In der gekürzten Fassung verliert der Text die Sprengkraft, die sich gerade hinsichtlich der Geschlechterungerechtigkeit in der katholischen Kirche aus diesen beiden Motiven ergibt.