
29. Sonntag im Jahreskreis C // zum Evangelium
Er gab ihnen einen Vergleich dafür, wie notwendig es ist, allezeit zu beten und nicht müde zu werden. Er sagte: »In einer Stadt lebte ein Richter, der weder Gott fürchtete noch einen Menschen achtete. Auch eine Witwe lebte in jener Stadt; die kam immer wieder zu ihm und sagte: ›Verschaffe mir Recht gegenüber meinem Gegner‹! Eine Zeit lang wollte der Richter nicht. Dann aber sagte er sich: ›Wenn ich auch Gott nicht fürchte und keinen Menschen achte, werde ich doch dieser Witwe Recht verschaffen, weil sie mich belästigt; sonst kommt sie noch am Ende und schlägt mich ins Gesicht.‹ Da sagte er mit großer Autorität: »Hört, was der ungerechte Richter sagt. Aber Gott sollte den Auserwählten, die Tag und Nacht zu Gott schreien, kein Recht schaffen und für sie keinen langen Atem haben? Ich sage euch: Gott wird ihnen Recht schaffen in kurzer Zeit! Wird der Mensch nun bei seinem Kommen Glaubenstreue finden auf der Erde?«
(Lukas-Evangelium, Kapitel 18, Verse 1-8)
Vor drei Jahren habe ich in der Auslegung dieses Evangeliums vor allem auf die spezifische Mischung von Sexismus und Altersdiskriminierung hingewiesen, die so viele ältere und alte Frauen erleben und von der es auch eine katholisch-konfessionelle Ausprägung gibt, etwa in der Geringschätzung von alten Ordensfrauen. Dem würde ich heute nur noch hinzufügen, dass es nach heutigem Stand der Wissenschaft nur sehr wenige Säugetiere auf der Welt gibt, bei denen die weiblichen Exemplare die Menopause überleben, und zwar Menschen und einige Walarten - Zahnwahle und Killerwale. Respekt ist also angeraten.
In der Regel wird das Gleichnis so ausgelegt, dass wenn schon der korrupte Richter der Witwe Recht verschafft, um wieviel mehr wird dann Gott für Gerechtigkeit sorgen? Denn der Richter ist ja sehr klar als Gegenbild Gottes gezeichnet. Diese Deutung ist auch wegen der Verwandtschaft dieses Gleichnisses mit dem Gleichnis vom störenden Freund (Lk 11,5-13) naheliegend. Dennoch lässt sich das Gleichnis auch anders lesen, zumal Jesus das Gleichnis auch nicht in diesem Sinn kommentiert.
Zusammen mit der Einleitung "Er gab ihnen einen Vergleich dafür, wie notwendig es ist, allezeit zu beten und nicht müde zu werden" nämlich kann man das Bildwort auch als Beispiel dafür lesen, gegen systematische und strukturelle Ungerechtigkeit zu protestieren, und als Verheißung, dass am Ende der Geschichte die Gerechtigkeit Gottes stehen wird. Die Position der Frau ist eine doppelte Bedrängnis: Witwen und Waisen sind in einer patriarchalen Gesellschaft rechtlich benachteiligt, weil Rechte über Männer garantiert und geordnet werden. Der kritische Ton der Tora dazu ist umso mehr hervorzuheben, weil den Witwen und Waisen besonderer göttlicher Schutz gewährt wird (z. B. Ex 22,20-26). Diese Witwe hier bekommt ihr Recht nicht, weil ein Mann sie bedrängt - eine eklatante Missachtung der Tora, und diese Missachtung wird potenziert, weil der Richter nicht Recht spricht und so eben auch die Tora bricht - und das auch noch ohne einen eigenen Vorteil, einfach nur, weil er es kann, und weil er keine Lust hat, der Frau Gerechtigkeit zu verschaffen. Dass die Frau ihm gegenüber handgreiflich würde, entspringt der Phantasie des ungerechten Richters, es ist eine sexistische Übertreibung dessen, was die Frau tatsächlich tut und zeigt, dass er gar nicht versteht, was strukturelle Ungerechtigkeit bedeutet. Er ist nämlich ein Mann und mit einem Richteramt ausgestattet, eine hochprivilegierte Position, aus der heraus der Widerstand der Ohnmächtigen lästig und belästigend erscheint - man braucht nicht besonders weit zu denken, um an heutige Beispiele zu kommen, wo hochprivilegierte Gruppen für sich in Anspruch nehmen, von den Benachteiligten wiederum diskriminiert zu werden, Stichworte hierfür sind etwa "auch weiße Menschen erfahren Rassismus" oder "mittlerweile bräuchten wir eine Männer-Quote bei Beförderungen". (Gerechtigkeit fühlt sich für die, die vorher privilegiert waren, erstmal wie Benachteiligung an. Es ist nicht zu viel verlangt, über diesen Impuls hinaus zu reflektieren.)
Ich finde es ungeheuer tröstlich, dass Jesus erkennen lässt, dass er solches Selbstmitleid der Privilegierten durchschaut. Er gibt dem Kreis seiner Schülerinnen und Schüler mit: Die systematische und strukturelle Ungerechtigkeit ist nicht im Sinne Gottes, denn Gottes Gerechtigkeit wird gerade als eine erwartet, die diesen Strukturen ein Ende bereitet. Und die "Auserwählten", diejenigen, die von Gottes Wort berührt werden, sollen sich an diese Strukturen nicht gewöhnen. Was die Witwe tut, ist hartnäckiger Einsatz gegen Ungerechtigkeit, auch aus einer unterlegenen Position heraus. "Allezeit beten und nicht müde werden" heißt, nicht aufhören, daran zu glauben, daraufhin zu hoffen, dass diese Ungerechtigkeit nicht das letzte Wort behalten wird. Und das ist kein Einzel-Seelenbad, sondern etwas, das Menschen in Gemeinschaft fordert: Wer diese Witwe um ihr Recht kämpfen sieht, soll nicht seiner oder ihrer Wege gehen. Umgekehrt stemmt sich die Witwe auch nicht nur gegen das Unrecht, das ihr persönlich widerfährt, sondern gegen die Ungerechtigkeit des Richters.
Gott hat einen langen Atmen, und das heißt nicht, dass Gott die Ungerechtigkeit egal wäre, sondern dass Gottes Treue weiter reichen wird als die Strukturen der Gewalt.
Zum Weiterlesen: Luise Schottroff, Die Gleichnisse Jesu, Gütersloh 4. Auflage 2015.