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2. Adventssonntag // zur 1. Lesung

Dann wird ein Zweig aus dem Baumstumpf Isais austreiben, und ein Spross wächst aus seiner Wurzel heraus.
Auf dieser Person wird die Geistkraft Gottes ruhen,
die Geistkraft der Weisheit und Einsicht, die Geistkraft des Rates und der Stärke, die Geistkraft der Erkenntnis und der Ehrfurcht vor Gott.
Sie wird Wohlgefallen an der Ehrfurcht vor Gott haben.
Nicht nach dem Augenschein wird sie Recht aufrichten, nicht nach dem Hörensagen Ausgleich schaffen.
Vielmehr wird sie in Gerechtigkeit die Schwachen richten, in Aufrichtigkeit für die Armen des Landes entscheiden,
wird das Land mit dem Stock ihres Mundes schlagen und mit dem Hauch ihrer Lippen die töten, die Böses tun.
Dann wird sie Gerechtigkeit als Gürtel um ihre Hüften
und die Treue als Gürtel um die Taille tragen.
Dann wird der Wolf beim Lamm als Flüchtling unterkommen, und der Leopard wird beim Böckchen lagern;
Kalb, Junglöwe und Mastvieh leben zusammen, ein kleines Kind treibt sie.
Kuh und Bärin werden weiden, gemeinsam werden ihre Jungen lagern,
und der Löwe wird wie das Rind Stroh fressen.
 Der Säugling wird vergnügt an der Höhle der Kreuzotter spielen,
und nach dem Loch der Giftschlange wird das Kleinkind mit seiner Hand patschen.
Sie werden nichts Böses tun und kein Verderben mehr anrichten auf dem ganzen Berg meiner Heiligkeit,
denn die Erde ist erfüllt mit Erkenntnis Gottes, wie die Wasser im Meer den Boden bedecken.
An jenem Tag wird die Wurzel der Familie Isais als Zeichen für die Völker dastehen, nach ihr werden die fremden Völker suchen, und ihr Ruheplatz wird ein Ehrenort sein. An jenem Tag wird die göttliche Herrschaft zum zweiten Mal ihre Hand ausstrecken, um den Rest ihres Volkes loszukaufen, der übrig gelassen wurde: von Assur, von Ägypten, von Patros, von Äthiopien, von Elam, vom Zweistromland, von Hamat und von den Inseln des Meeres.

(Buch Jesaja, Kapitel 11, Verse 1-10)

Christinnen und Christen sind es gewohnt, diese Verse aus dem Buch Jesaja auf Jesus von Nazareth zu beziehen. Das ist aber natürlich nur eine Interpretationsmöglichkeit dieses Textes, und dazu eine, die im Text selbst keinen Anhalt hat. Der prophetische Text ist erst einmal eine Antwort auf den Untergang des Nordreichs Israel im Jahr 722 v.Chr. Er hat dabei eine dezidiert königskritische Spitze: Wenn Gott einen neuen Spross aus dem abgeholzten Baumstumpf wachsen lässt, dann erlaubt das auch die Interpretation, dass der neue Heilskönig gerade nicht aus dem Haus David kommen wird, dessen Vater Jesse/Isai hier benannt ist. 

Der neue Friedenskönig wird so handeln wie Gott im Bild der Völkerwallfahrt in Jes 2,2-5: Recht im Großen sprechen durch Aufrichtung des Rechts (schafat) und für Gerechtigkeit im Kleinen sorgen durch Rechtsprechung, die begründet und auf Einsicht setzt (jachach). Wenn das geschieht, dann geschieht Abrüstung von unten, und wer bewaffnet war, macht aus der eigenen Waffe Pflugschar und Winzermesser, um das Land in Frieden und Sicherheit zu bebauen, um das Lebensnotwendige und den Überfluss zum Leben zu haben, das Brot und den Wein. Und Jes 11 fügt hinzu: Diese Abrüstung wird sich nicht auf die Menschen beschränken. Auch die wilden und die gezähmten Tiere werden ohne Jagd und Überlebenskampf auskommen. Dieses Bild hat seine Entsprechung in der Beschreibung der Zusammenhänge, die das Leben bestimmen, wenn das Paradies des Urzustands sich verschlossen hat: Nun können Menschen so sorglos bleiben, wie sie es als kleine Kinder waren. Auch der ursprüngliche Veganismus wird wieder hergestellt: Menschen und Tiere ernähren sich von Pflanzen. Sie würdigen damit dem Lebensatem Gottes, denn in dieser Vorstellung sind Menschen und Tiere nicht zuerst individuelle Einzelwesen, sondern Wesen, die vom Lebensatem Gottes ihre Lebendigkeit erhalten. Was uns als einzelne Lebewesen auszeichnet, ist genau das gleiche, was uns mit allen anderen Lebewesen verbindet, nämlich Anteil zu haben am Lebensatem Gottes. Wo diese Verbindung zerbricht, da hält nur die Gewalt des Fressens und Gefressenwerdens die Welt im Gleichgewicht - so entspricht es der neuen Ordnung, die mit dem Noachbund (Gen 9,3) in die Bibel kommt, der die Entwicklung hin zum Nicht-mehr-Urzustand aus Genesis 1,29-30 legitimiert. (Das ist eine synchrone Betrachtungsweise der Texte; die Wege der Glaubensentwicklung sind natürlich komplexer - aber so ist das Ergebnis der finalen Redaktion der Tora und der prophetischen Schriften.) Wenn also im Bild des Tierfriedens die wilden Tiere untereinander sich nicht mehr jagen und fressen, auch zwischen wilden und gezähmten Tieren und zwischen wilden Tieren und wehrlosen Menschenkindern Friede ist, dann darf man getrost davon ausgehen, dass auch die gewalttätigen Geschlechterbeziehungen aus Gen 3,16 an ihr Ende kommen: Die gute Ordnung ist nicht die, in der der Mann das sexuelle Begehren der Frau durch Dominanz beantwortet, sondern die lust- und liebevolle Gemeinschaft der Geschlechter, wie sie das Hohelied besingt, das als Buch ebenfalls eine innerbiblische Relecture des Genesis-Textes darstellt.

Diese neue Gemeinschaft wird zum Zeichen für die Völkerfamilie ('amim) und zum Vorbild für die fremden Völker (gojim). Sie ebnet aber nicht alle Unterschiede ein, sondern wird mit einem zweiten Exodus gekrönt, mit dem Gott die verstreuten Angehörigen des Volkes Israel sammeln wird. Und ihren Anfang nimmt alles das mit dem Friedenskönig, der nicht aus eigener Kraft lebt und kein einsamer Held ist, sondern ein geistbegabter Mensch, auf dem die Ruach Gottes wohnt. Ruach ist ein lautmalerisches Wort für eine Luftbewegung, die man hören kann, und sie kann im menschlichen Atem genauso begegnen wie im Sturmwind der Natur. Wenn das Wort biblisch auf Gott und Gottes Wirken hin verwendet wird, steht es in der weiblichen Form. Zusammengenommen mit der Beobachtung, dass nur eine Lautverschiebung von Ruach zu Räwach und damit zum Wort "Weite" führt, finden sich Beispiele ihrer Wirksamkeit leicht in der menschlichen Erfahrung: Der laute Atem, der Weite schafft, ist sowohl beim Sex als auch unter der Geburt sowie nicht immer, aber häufig beim Sterben zu hören. Das sind zugleich die Situationen des Lebens, in denen Menschen existenziell darauf angewiesen sind, von einer bergenden Umgebung bewahrt zu werden, weil sie sich ihrem Körper überlassen müssen und sich nicht selbst verkörpern oder halten können. Es sind schöpferische Situationen, und es ist die gleiche lebenschaffende, stürmische Gottesgegenwart, die im Lied-vom-Anfang-von-allem über den Chaoswassern weht, die die Wasser der Sintflut wegtreibt, so dass wieder Leben auf der Erde möglich ist, die das gefährliche Meer von den Kindern Israels fernhält, als diese aus Ägypten ausziehen, und die Himmel und Erde verbindet, wie es der Psalm 104 besingt – nicht von ungefähr der erste Text im Psalter, in dem ein Halleluja erklingt.

Wenn diese stürmische Gottesgegenwart befreiend in der Geschichte wirkt, dann werden Menschen, wird alles Leben zum Frieden befähigt. Denn nicht der Krieg ist der Vater aller Dinge. Die Geistkraft Gottes, die Leben hervorbringt wie eine Frau unter der Geburt, sie treibt Menschen an, die Frieden schaffen, die Frieden und Gerechtigkeit in die Welt bringen. Sie ist so viel kreativer, so viel göttlicher, so viel mächtiger als die Gewalt, die in (männlichen) Kriegen eskaliert. Sie treibt Menschen an, etwas Neues in die Welt zu bringen. Sie ist alles, nur nicht langweilig und blutleer. Sie ist es, die unsere Geschichte zu einem guten Ende führen kann.