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17. Sonntag im Jahreskreis C // zum Evangelium

Im Sonntagsevangelium ist das Vaterunser in der Fassung des Lukas (Lk 11,1-13) an der Reihe. Aus der Anfrage „Darf man auch ‚Mutter unser‘ sagen?“ wird schnell die Gegenfrage: "Müssen wir dann jetzt immer 'Mutter unser' sagen?!" In diesem Satz äußert sich so viel Enteignungsangst, Aggression und Widerstand, dass es sich lohnt, hier einmal genauer hinzuschauen. Zuerst einmal: Niemand muss irgendetwas, niemandem soll etwas weggenommen werden, niemand soll zu etwas gezwungen werden. Für das gewohnte Beten des Vaterunser gibt es eine Menge guter Gründe - Verbundenheit, Zugehörigkeit, Beheimatung, Worte, so tief eingesunken in die Seele, dass wir nicht aktiv beten müssen, sondern uns beten lassen können.

Einmal aber sei der Gedanke gewagt: Die Angst vor Enteignung, die so starke Abwehr hervorruft, sie hat eine Entsprechung, und das ist die Enteignungserfahrung vieler Menschen, die durch rein männliche Gottesbilder von einem Resonanzraum ausgeschlossen sind, in dem ihre eigene Seele sich angesprochen und gemeint fühlen könnte. So stark, wie die Angst vor Enteignung ist, so stark ist auch das Gefühl von Ausgeschlossensein und Entfremdung, wenn die Gebetssprache Gott in Bildern anspricht, die bei Männern unmittelbare Resonanz und das Gefühl von Zugehörigkeit erzeugt, für Frauen aber ein anderes, ein Gegenüber konstruiert. Das ist erst einmal nur eine Beobachtung, es ist nicht das eine besser als das andere - im Gegenteil, die Erfahrung, selbst eben nicht göttlich zu sein, auf dem Seelenteppich zu bleiben und so besser die eigenen Skrupel von göttlichem Verbot, eigenes Gefühl von göttlicher Bestätigung unterscheiden zu können, ist ein wichtiges Korrektiv im eigenen religiösen Wachstum. Gott in fremden, nicht eigenen Bildern anzureden, bewahrt uns vor der Versuchung, uns für göttlichzu halten - und viele Männer sind vor solcher Versuchung augenscheinlich nicht gut bewahrt. Die andere Seite ist aber, dass, wenn Gott immer ganz anders bleibt und nie mit den Bildern angeredet wird, die der Beterin selbst auch entsprechen, damit auch eine Erfahrung von Innigkeit fehlt.

Der Schritt zu dieser Sehnsucht nach Innigkeit aber ist oft erst der zweite, der erste ist, dringend einer Alternative zur Anrede "Vater" zu bedürfen, weil mit dem Wort "Vater" gravierende Verletzungen der eigenen Seele verbunden sind. Darf man dann "Mutter" sagen? Gegenfrage: Was wäre Jesu Antwort wohl, wenn er gebeten würde: "Bitte, sag mir, wie ich beten kann. Aber nicht mit 'Vater', du weißt ja, warum nicht." Dann wäre Jesus doch der letzte, der sagen würde: "Du musst aber 'Vater' sagen!" "Und warum?" "Weil ich es sage [und so lange du deine Füße unter meinen Altar stellst... usw..]"

An dieser Stelle im Gespräch über weibliche Gottesbilder der Bibel äußert dann allermeistens jemand: "Es gibt aber auch schlechte Mütter!" Und ja, das ist leider richtig. Leider hat nicht jedes Kind die Eltern, die ihm ein gewaltfreies, geborgenes Aufwachsen ermöglichen können. Der Clou an dieser Stelle ist aber, dass wir das bei Vätern in der Regel eingepreist haben. Schlechte Väter sind eine Realität. Wenn aber eine Mutter eine schlechte Mutter ist (was auch immer das ist - es gab Zeiten, da hat schon schlichte Berufstätigkeit sie zu einer solchen gemacht) - dann ist aber was los. Hier gibt es einen Gendergap in der Wahrnehmung, der an Frauen wesentlich höhere Anforderungen stellt denn an die Männer.

Zurück zum Vaterunser. Wenn Jesus Gott "Vater" genannt hat, dann dürfen wir nichts anderes sagen, eine Ersetzung oder Ergänzung des Wortes "Vater" ist dann illegitim, so lautet eine verbreitete Einschätzung. Drei Perspektiven zum Weiterdenken möchte ich geben:

Erstens ist Jesus kein religiöser Alleswisser. Jesus ist ein Mensch, der in einer bestimmten religiösen Tradition aufgewachsen und darüber in seine Gottesbeziehung hineingewachsen ist, und zwar so sehr, dass Menschen an ihm sehen können, wie Gott ist. Das heißt nicht, dass Jesus über Sonderwissen verfügt und aus einem vorgeburtlichen Gedächtnis irgendein Wissen schöpfen könnte, wie Gott wirklich ist - so dass daraus, dass Jesus Gott "Vater" nennt, ableitbar wäre, dass Gott wohl ein Mann sein müsse. Jesus wächst in einer patriarchalen Gesellschaft auf und übernimmt ihr Vokabular. Er überwindet dieses Patriarchat stellenweise - in seiner eigenen Gemeinschaft soll niemand die Vaterrolle einnehmen, er lässt sich von Frauen korrigieren und seine eigenen Engen erkennen, er führt innige Beziehungen ohne Rücksicht auf das Geschlecht und behandelt Frauen als Menschen wie alle. Das heißt aber nicht, dass Jesus auch schon alle Aspekte einer patriarchalen Sprache überwunden hätte. Ich stelle mir vor, dass Jesus heute auch gendern würde und vielleicht gepflegt die Augenbrauen hochziehen würde, wenn Menschen versuchen würden, ihm zu erklären, dass das alles Genderideologie sei.

Zweitens zeigt schon der Vergleich zwischen den Vaterunser-Fassungen bei Lukas und bei Matthäus, dass diese nicht deckungsgleich sind, sondern dass wohl die Fassung von Lukas die ältere ist, die in der Praxis dann erweitert wurde. Aus einen Gebet, das man an den fünf Fingern einer Hand abzählen kann, um es sich leichter merken zu können, wird eine Fassung, in der auf fünf auf Gottes Wirken hin gerichtete Bitten fünf "Wir"-Bitten folgen - jetzt zählt man also an zwei Händen ab. Es ging offenbar nicht um Wortgleichheit, sondern um das Beten im gleichen Grundgefühl. Dabei sind alle Bitten sowohl aus Psalmen wie auch aus schon tradiierter frühjüdischer Gebetspraxis bekannt, sie finden sich im Kaddisch wie auch im 18-Bitten-Gebet. Es geht um ein kurzes Best-of, und dieses speist sich aus der religiösen Tradition.

Und drittens: Jesus lehrt dieses Gebet nicht auf Griechisch, sondern auf Aramäisch. Es gibt Versuche der Rückübersetzung, die dann jeweils in der ersten Zeile "Vater-Mutter", "Urgrund des Kosmus", "Gebärerin des Alls" oder ähnliches formulieren. Wie wortgetreu und original so eine Fassung sein kann, sei dahingestellt - ein Ertrag dieses Bemühens ist ein neuer Blick auf das Wort "Pater". Nicht nur das aramäische "Abba", sondern auch das griechische "Pater" meint mehr als eine biologische Elternschaft des männlichen Elternteils, es geht um Zugehörigkeit und Herkunft, und die Worte können auch für beide Elternteile stehen. Und vor allem ist es ein Bild, keine Definition. Das am häufigsten im Zweiten Testament zitierte Buch der Hebräischen Bibel ist der Psalter, und ausgerechnet in diesem Buch, so knallvoll mit Gottesbildern, kommt das Gottesbild des Vaters nie als direkte Anrede vor. Nur an zwei Stellen wird es indirekt benutzt, einmal im Psalm 2, einem Königspsalm: "Mein Sohn bist du, heute habe ich dich gezeugt" - aber jld kann auch "gebären" heißen, also ist die vermeintliche Eindeutigkeit wieder dahin. Die zweite Stelle findet sich im Psalm 103, den ich gern als Jesu Lieblingspsalm bete, weil so viele der Bilder daraus in Jesu Worten aufgerufen werden, und darin heißt es: "Wie ein Vater sich seiner Kinder erbarmt, so erbarmt sich JHWH über die Gottesfürchtigen" (Ps 103,13). Wenn in der Hebräischen Bibel das Bild des Vaters für Gott gebraucht wird, dann geht es in der Regel um Erbarmen - im Hebräischen ist dieses Körperbild aber sprachlich nicht mit dem Herzen, sondern mit der Gebärmutter verbunden, es geht also um Gottes Mutterschößigkeit. Und in diesem Sinn verwendet auch Jesus diese Anrede. Es geht nicht darum, Gott als patriarchalen Vater zu definieren, sondern es geht um Vertrauen und Vertrautheit, um Zugehörigkeit und Innigkeit.

"Müssen wir jetzt alle 'Mutter unser' sagen?!": Sicher nicht. Es geht nicht um Zwang, nicht um Definition, nicht um Richtig oder Falsch. Es geht darum, in eine vertrauensvolle, innige Gottesbeziehung hineinzufinden, sich von Jesus in eine solche Gottesbeziehung hineinführen zu lassen. Und wenn dann die Anrede "Mutter", "Mama", "Vater und Mutter", "Elterngott", "Gott unser Ursprung"... das Herz mehr zu öffnen vermag, was sollte daran falsch sein? 

Ein letztes noch: im Gebet Jesu ist die betende Stimme immer eingebettet in ein "Wir". Nicht persönliche Erlösung, sondern Gemeinschaft ist die leitende Perspektive. In dieser Gemeinschaft soll es keine Herrschaft der einen über die anderen geben, auch nicht in dem Sinne, dass die einen für die anderen festlegen, wo sie sich gemeint oder mitgemeint zu fühlen haben, was richtig sei zu beten und was nicht. Und es geht nicht darum, nur die eigene Gottesbeziehung zu pflegen, sondern das Herz offen zu halten auch für alles Leben um uns herum. Das heißt nicht, sich unnötigen Verletzungen auszusetzen, sondern die Relationen zu beachten: Wichtiger als der Wortlaut ist die Heiligkeit des Lebens, wichtiger als ein Gottesbegriff ist die Suche nach dem, was uns eint, und das Tun der Gerechtigkeit.