Cover Image

1. Fastensonntag C // zur ersten Lesung

[Du wirst in das Land kommen, das Adonaj, deine Gottheit, dir als Erbbesitz gibt. Du wirst es einnehmen und darin wohnen. Nimm dann von den ersten Erträgen des Feldes, die dein Land hervorbringt, das Adonaj, deine Gottheit, dir gibt. Lege sie in einen Korb und mach dich zu der Stätte auf, die Adonaj, deine Gottheit, erwählen wird, um ihren Namen dort wohnen zu lassen.]

Gehe zu der Person, die zu der Zeit gerade mit dem Priesteramt betraut ist, und sage ihr: ›Ich bekenne heute vor Adonaj, deiner Gottheit, dass ich in das Land gekommen bin, von dem Adonaj unseren Vorfahren durch einen Schwur zugesagt hat, es uns zu geben‹. Die mit dem Priesteramt betraute Person soll den Korb aus deiner Hand nehmen und ihn vor dem Altar Adonajs, deiner Gottheit, absetzen. Darauf sollst du dann erwidern vor Adonaj, deiner Gottheit, und sprechen: ›Meine Vorfahren waren umherirrende aramäische Leute. Sie stiegen hinab nach Ägypten und lebten dort als Fremde in der Minderheit. Dort wurden sie zu einem zahlreichen, großen und starken Volk. Die in Ägypten behandelten uns schlecht und demütigten uns. Sie drückten uns einen harten Dienst auf. Da schrien wir zu Adonaj, der Gottheit unserer Vorfahren. Adonaj hörte unsere Stimme und sah den Druck, unter dem wir standen, unser Elend und unsere Qualen. Adonaj führte uns mit starker Hand, mit ausgestrecktem Arm, durch große Ereignisse, durch Zeichen und Wunder aus Ägypten heraus und brachte uns an diesen Ort und gab uns dieses Land, ein Land, das von Milch und Honig überfließt. Und jetzt: Siehe, ich bringe die ersten Erträge des Feldes, das Adonaj mir gegeben hat.‹ Lege sie vor Adonaj, deiner Gottheit, nieder und wirf dich nieder vor Adonaj, Gott für dich.

[Freue dich an all dem Guten, das Adonaj, deine Gottheit, dir und deiner Familie zukommen lässt: Du und die levitischen Familien und die Fremden, die in deiner Mitte sind.
Entrichte in vollem Umfang jedes dritte Jahr, im Zehntjahr, den zehnten Teil deines Ertrages und gib ihn an die levitischen Familien, an die Fremden, die Waisen und Witwen, so dass sie sich in deiner Stadt satt essen können. Sprich dann vor Adonaj, deiner Gottheit: ›Alles, was dir gehört, habe ich aus dem Haus geschafft und es den levitischen Familien, den Fremden, Waisen und Witwen gegeben. So verlangt es das Gebot, das du mir geboten hast. Ich überschreite und vergesse deine Gebote nicht...]

(Buch Deuteronomium, Kapite 26, Verse 1-13)

Nach der Ernte wird das Ernteopfer dargebracht. Das Ernteopfer soll Gott nicht manipulieren, sondern der Verdanktheit des Lebens Ausdruck verleihen: Wir leben nicht aus eigener Kraft, wir sind abhängig voneinander, von der Erde, von den Kräften des Lebens. Die für die Lesung ausgewählten Verse stammen aus dem letzten Kapitel des deuteronomistischen Gesetzes (Dtn 12-26), darin nimmt Mose in einer langen Rede vorweg, wie das Volk, wenn es im Land seiner Hoffnung angekommen ist, leben soll. Und wie ein Resumee des ganzen Auszugs legt das letzte Kapitel des Gesetzes fest, was beim Darbringen des Ernteopfers zu sagen ist: Wer es erbringt, soll sich ausdrücklich an die eigene Ohnmacht erinnern und sich hineinerzählen in eine Geschichte des Unterdrücktwerdens und der Rettung durch Gott.

Es ist eine männlich erzählte Geschichte, die in der Einheitsübersetzung beginnt "Mein Vater war ein heimatloser Aramäer..." Man kann sie natürlich weiter hören, so weit wie die biblischen Erzählungen: "Meine Eltern waren heimatlos. Aus Sarahs Freude über deine Verheißung wurde ein großes Volk. Der Streit unserer Vorfahren mit Josef, der so gerne ein Prinzessinenkleid trug, führte erst zu unserer Trennung, aber dann wurde sein Leben in der Fremde Ägyptens für uns zur Rettung vor der Hungersnot. Als wir aber dort in Unterdrückung gerieten, ließen die Hebammen Schifra und Pua die Macht des Pharao über das Leben unserer neugeborenen Jungen ins Leere laufen, und Mose Mutter und Schwester und die Tochter des Pharao retteten Mose vor dem Todesbefehl. Mose und Mirjam führten uns mit Gottes Gnade aus Ägypten, Rahab ermöglichte uns, Jericho zu erobern. Und jetzt sind wir hier, und wir leben nicht aus uns selbst..."

Der Lesungszuschnitt - ohne die oben eingeklammerten Teile, die vor und nach dem ausgewählten Lesungstext stehen - belässt es bei der Regelung des Opfers. Wer das ausgewählt hat, geht anscheinend davon aus, dass hier ein Sinnzusammenhang endet und danach etwas neues beginnt. Denn in den nächsten Versen scheint ein neues Thema anzufangen, von der konkreten Opferbestimmung geht es nun darum, dass die Gemeinschaft nicht abgeschottet lebt, und dass nicht alle in ihr die gleichen Möglichkeiten haben. Es gibt die Priesterfamilien, die kein Land besitzen und bebauen, es gibt die Fremden, es gibt die Witwen und Waisen, die schutzlosesten Mitglieder der Gesellschaft, weil sie keinen männlichen Familienangehörigen haben, der sie versorgt, der ihnen zu ihrem Recht verhilft und ihnen einen Stand in der patriarchalen Gesellschaft verschafft. Denn das Patriarchat schafft Verlierer, vor allem Verliererinnen.

Aber diese Verse gehören notwendig zusammen. Nach dem ausgewählten Lesungstext wird zuerst zugesagt: Freu dich an dem, was dich leben lässt - du und die Priesterfamilien und die Fremden. Und dann wird gesagt, wie das konkret geht: Gib in jedem dritten Jahr den Zehnten ab, und daraus werden alle diese Gruppen unterstützt und ernährt, genau wie die Witwen und Waisen. Also die, die arbeiten und ernten und die, die das nicht können, die angewiesen sind auf die Unterstützung der Gemeinschaft - die einen, weil sie für die religiösen Grundlagen der Gesellschaft sorgen, heutig gesagt: für Sinn, für Erinnerung, für den weiteren Blick. Und die anderen, weil sie vom Weg in die Freiheit nicht profitiert haben, die auf der Strecke ihrer Biographie geblieben sind, ungeschützt und ausgesetzt. Erst damit sind die Bestimmungen über die Ernteopfer vollständig, und das ist ein eindrucksvolles Ende dieses Gesetzbuchs. Es geht nicht nur um Kult, es geht nie nur um den Kult. Es geht um Fürsorge und Verteilungsgerechtigkeit, ohne diese ist das Opfer nicht vollständig. Das wird auch schon aus der begleitend  zu erinnernden Geschichte von Unterdrückung und Rettung klar, und diese Erinnerung ist erst zu Ende erzählt, wenn sie zu Solidarität führt.

Biblische Erinnerungskultur führt in solidarische Praxis, und wir brauchen Solidarität, so dringend. Wir brauchen Geschichten, in denen wir keine Helden sein müssen. Wir brauchen Recht, das die Schwachen schützt. Wir brauchen Menschen, die ihr Leben erzählen mit der Erinnerung daran, dass sie jederzeit auch auf der Verliererseite der Geschichte stehen können. Derzeit sehen wir eindrucksvoll, was passiert, wenn Menschen ohne Demut vor dem Leben Macht über das Leben gewinnen. Biblisch glauben kann in dieser Zeit eine Hoffnungsressource sein: sich hineinerinnern in eine Geschichte, die zu Solidarität führt, weil wir alle nicht aus uns selbst leben, und dieser Verdanktheit einen praktischen Ausdruck geben.