
Kreuzerhöhung // zum Fest
Das Fest der Kreuzerzhöhung löst in mir zwiespältige Gefühle aus. Sein Ursprung, die Einweihung der Anastasis-Kirche – auf deutsch Grabeskirche – in Jerusalem erinnert mich daran, wie vielfältig christlicher Glaube ist, und an meinen Kulturschock beim ersten Besuch: die vielen den Salbungsstein küssenden Menschen, die schwere Weihrauchluft, diese zusammengewürfelte Kirche mit ihren so unterschiedlichen Ausstattungen, Kulturen, Selbstverständlichkeiten, wo so viele Konfessionen je ein Eckchen ausgestaltet haben (der Alptraum jeder Innenarchitektin), und vor allem dieser viele Schmuck über dem, was Schrecken, ungefilterte erlittene Gewalt und Verzweiflung gewesen war. Ich habe die Anastasis danach wochenlang gemieden und mir dann schrittweise angeeignet: Erst bin ich über das Dach gegangen, wenn das eine Abkürzung eines Weges durch die Jerusalemer Altstadt war. Gelegentlich bin ich dabei abgebogen die vielen Stufen hinunter zur Helenagrotte, einer römischen Zisterne, tief aus dem Fels unter der Kirche ausgehauen. Später habe ich jedes Mal, wenn ich vorbei kam, einen Zwischenstopp auf Golgotha eingelegt, ein paar Minuten oder auch länger. Auch wenn ich weiterhin eine Skepsis mit mir herumtrage, ob ich dieses framing des Leidens, es mit Gold zu umgeben, akzeptieren kann, so habe ich die Anastasis in all ihrer Fremdheit doch mögen gelernt: Sie relativiert in ihrer zusammengestückelten Existenz jeden Absolutheitsanspruch – auch den Kreuzfahrern ist es nicht gelungen, daraus einen einheitlichen Kirchenbau zu machen. Im Heiligen Grab bin ich nie gewesen; es soll ja ohnehin leer sein. Liebgewonnen habe ich die koptischen Gesänge und den kleinen Marmorblock, der genau in der Mitte der Achse von Golgatha zum Grab den Nabel der Welt darstellt. Alle Ausprägungen der Anastatis verdanken sich letztlich der christlichen Pilgerin und Kaisermutter Helena, die die Wege geebnet hat.
Das Sammelsurium der Anastatis an Kulturen, Identitäten, Selbstverständlichkeiten erwächst aus dem gemeinsamen Bezug auf das Kreuz, dort wundersamerweise von Helena aufgefunden und identifiziert. Es ist eine handfeste Erinnerung an das, was die Realität systematischer Folter und Entmenschlichung gewesen war – jede Kreuzigung ein Verbrechen gegen die Menschheit (mit Hannah Arendt ist mir schleierhaft, warum sich im Deutschen die abmildernde Übersetzung „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ durchgesetzt hat – es geht ja nicht nur um verletzte Gefühle).
Wir versuchen auf so viele Weisen, mit der Realität des zugefügten Leidens zurechtzukommen. Das vergoldete Gedenken in so vielen verschiedenen Ausprägungen zeigt, wie schwer das ist. Es kann die erlittenen Wunden mit dem Glanz umgeben, der für Heil, Trost, Geborgenheit und Überwindung in Gottes letztem Wort steht. Es birgt in sich aber auch die Gefahr, das Leid zu glorifizieren und im Erleiden einen Sinn in sich zu sehen – und besonders Frauen ist das immer wieder mehr als nahegelegt worden: Ertragen, sich aufopfern, nicht aufbegehren, sich nicht beklagen und vor allem, sich nicht wehren, legitimiert durch den Blick auf das Kreuz dessen, der sich auch nicht gewehrt hat. Es gibt aber einen schmalen Grat zwischen Gewaltlosigkeit und Wehrlosigkeit. Wo aus mächtiger, weil gewählter Gewaltlosigkeit Wehrlosigkeit wird, darf das Erleiden nicht verklärt werden. Es ist pure Gewalt, und sie trägt weder Sinn noch Erlösung in sich. Wo Gewaltlosigkeit nicht gewählt werden kann, weil ein Mensch wehrlos ist, darf das nicht mit dem Hinweis auf das Kreuz verbrämt werden. Und ganz besonders gilt das für männlich-patriarchale Unterdrückungsstrukturen und Gewaltausübung. Dass ausgerechnet solche strukturelle Gewalt gegen Frauen mit dem Hinweis auf das männliche Geschlecht Jesu gerechtfertigt wurde und wird, ist in sich tragisch und widersinnig.
Denn Männlichkeit wurde in der Antike erworben, vermittelt, demonstriert, verteidigt, zu- und abgesprochen. Kurz: Sie war auch damals eine soziale Wirklichkeit, und man konnte sie verlieren, am sichersten durch die Kreuzigung. Die Feier des Gedenkens an den, der sich diesem Sterben nicht entzogen hat, bei dem er seine Männlichkeit verlieren würde, heute an das männliche Geschlecht zu koppeln, ist ein dramatisches Missverständnis – er ist Christus, der Gekreuzigte, und gerade darum nicht mehr Christus, der Mann! Und auch wenn man denen, die ihm das antaten, nicht das letzte Wort über seine Identität lassen will – seine Bereitschaft zum Weggeben bezog auch seine Männlichkeit ein. Vielleicht hat das viele Gold über den Kreuzen, in der Anastasis und anderswo, zu diesem Missverständnis beigetragen, verstärkt durch den ungebrochenen Absolutheitsanspruch einer Konfession, die sich durch nichts in Frage stellen lassen will.
Das Kreuz, verehrt in der Kirche, die eine Frau erbauen ließ, wurde auf so viele Arten eingepasst in Herrschaftsstrukturen, Machtausübung, ausgelebte Gewaltbereitschaft und Legitimation ungerechter Strukturen. Aber in sich ist es widerständig zu alldem. Es bezeugt, wozu Menschen fähig sind. Und es steht gegen jeden männlich-patriarchalen Machtanspruch. Die Erzählung, dass eine Frau einen Blick für dieses Kreuz hatte, kann ein Schlüssel sein, die Überbauung des Kreuzes mit Herrschaftsansprüchen, Machtlegitimierung und struktureller Gewalt in Frage zu stellen.